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Streiks

Margaret hat den ersten Teil ihres Lebens im ländlichen New Forest und in der besseren Gesellschaft Londons zugebracht. Erst in Milton lernt sie aus erster Hand, was ein Streik ist.

Was ist ein Streik?

Ein Streik ist ein Druckmittel der Arbeiter: durch das Niederlegen der Arbeit drängen sie ihre Dienstherren dazu, ihnen höhere Löhne zu zahlen. Das ist die in Milton allgemein anerkannte Definition. Mrs. Thornton vermutet hinter den Streiks allerdings weniger eine ökonomische als vielmehr eine psychologische Zielsetzung, nämlich, dass die Arbeiter Machtspiele mit ihren Arbeitgebern treiben und diesen zeigen wollen, dass sie die Stärkeren sind. Diese Annahme von Mrs. Thornton erinnert unwillkürlich an die Zeilen »Alle Räder stehen still, wenn dein starker Arm es will.« aus Georg Herweghs »Bundeslied für den Allgemeinen Deutschen Arbeiterverein« von 1863. Und somit war Elizabeth Gaskell mit ihrem Gedankengut einmal mehr ihrer Zeit voraus! Sie schildert in »Norden und Süden« einen unerbittlichen Klassenkampf, die Strategien und Auswirkungen auf beiden Seiten, aber schließlich auch die idealistische Lösung für eine friedliche Zukunft – nämlich den kompromissbereiten, kooperativen Dialog, wie er von John Thornton und Nicholas Higgins beim Projekt der Werkskantine geführt wird. Selbst im 21. Jahrhundert haben wir Gaskells Ansatz nur teilweise verwirklicht, und es gibt immer noch Streiks. Die Aktualität dieses Buchs ist immer wieder atemberaubend.

Woher kommt die Forderung nach höheren Löhnen in »Norden und Süden«?

Manche Familien, wie die von Boucher, leben in bitterer Armut, da die zahlreichen Kinder noch so jung sind, dass sie – selbst nach damaliger Vorstellung – nicht in den Fabriken arbeiten und mitverdienen können. Somit muss ein einziger Brotverdiener eine große Familie versorgen. Außerdem ist Boucher nicht so geschickt wie andere Baumwollspinner, die mehr als zwei Webstühle gleichzeitig bedienen können und folglich mehr Lohn erhalten. Für Bouchers Familie geht es also ums nackte Überleben, und ein höherer Arbeitslohn würde ihre Existenzprobleme entschärfen. Andererseits hat die Familie während des Streiks überhaupt kein Einkommen und könnte noch vor der Einigung zwischen Arbeitern und Unternehmern Familienmitglieder durch Hunger verlieren. Bessy Higgins erwähnt in Kapitel 17, dass ihre Mutter während eines Streiks starb, als ihre Familie aufgrund ihrer Notlage hungern musste. Der Streik stellt also ein großes Risiko für die Gegenwart dar, das gleichzeitig ein besseres Leben in der Zukunft verspricht.

Auch jene Familien, die einigermaßen über die Runden kommen, beteiligen sich an den alle paar Jahre durchgeführten Streiks, da die Preise steigen und das Einkommen irgendwann nicht mehr ausreicht, um ein gutes Leben zu führen. Wer sich irgendwann das tägliche Brot kaum mehr leisten kann, sieht voller Groll auf das üppige Leben seines vornehmen Dienstherrn und möchte ein Stück von dessen Kuchen abhaben, da er diesen ja durch seiner Hände Arbeit erst ermöglicht.
Das Zitat aus den Korngesetzreimen von Ebenezer Elliott am Anfang von Kapitel 22 spielt auf die britischen Korngesetze an, die die Getreidepreise künstlich hoch halten sollten. Die hohen Preise für Brot waren also noch nicht einmal auf schlechte Ernten oder eine allgemeine Geldentwertung zurückzuführen. Die Arbeiter waren förmlich dazu gezwungen, mehr Lohn zu fordern, um zu überleben. Daher nahmen sie den gefährlichen Lohnausfall während eines Streiks für die Chance auf eine Lohnerhöhung in Kauf.

Wie stehen die Charaktere zum Thema Streik?

Margaret ist eine mitfühlende, weichherzige, kooperative junge Frau, der Gerechtigkeit deutlich mehr am Herzen liegt als persönlicher Luxus. Für sie zählt jeder Mensch gleich viel. Der Gedanke an einen Klassenkampf ist ihr zuwider. Sie sieht die einfachen Bedürfnisse ihrer Mitmenschen und versucht daher pragmatisch, der Boucher-Familie durch Essensspenden zu helfen.

Mr. Hale sieht den religiösen Aspekt der Situation und hält es für die Pflicht der Arbeitgeber, – aber auch der Arbeitnehmer- christlich zu handeln.

Nicholas Higgins sagt, er setze sich in erster Linie für das Überleben der ärmeren Familien ein, da seine eigene mit dem bisherigen Lohn zurechtkomme. Für ihn ist ein Streik ein Ding der Notwendigkeit, weswegen er als einer der Anführer fungiert. Er ist sehr zuversichtlich, da er nicht mit einer Gegenstrategie der Unternehmer rechnet.

Bessy Higgins ist krank und hat nicht die nervliche Kraft, um die spannungsgeladene Atmosphäre eines Streiks auszuhalten. Die schreckliche Erinnerung an den Tod ihrer Mutter während eines früheren Streiks sucht sie heim und wühlt sie innerlich auf.

John Thornton sieht die schwierige Marktlage für die Baumwollproduzenten und zeigt sich den Streikenden gegenüber eisern. Andererseits macht er sich nicht die Mühe, an die Vernunft der Streikenden zu appellieren und ihnen die Situation zu erklären. Sein Stolz hält ihn davon ab, sein Tun vor seinen Arbeitern zu rechtfertigen. Aus seiner Sicht sind die Arbeitgeber den Arbeitern überlegen, da sie über den nötigen Unternehmergeist verfügen, um sich hochzuarbeiten und ein Unternehmen zu führen. Er vergisst dabei, dass viele Jungunternehmer nie selbst hart gearbeitet, sondern einfach nur eine Fabrik geerbt haben.

Und die kranke Mrs. Hale ist vielleicht ein bisschen eifersüchtig auf den Streik, da er ihr vorübergehend ein wenig die Aufmerksamkeit stiehlt. Und ihre Eifersucht sei ihr gegönnt, denn sie ahnt bereits, dass sie die Aufmerksamkeit ihrer Lieben nicht mehr lange wird genießen können.

Was ist der Unterschied zu heutigen Streiks?

Wenn heute in Deutschland in den Nachrichten von Streiks berichtet wird, handelt es sich meist um Streiks im Öffentlichen Dienst, bei der Bahn oder bei Flug- bzw. Bodenpersonal. Am unmittelbarsten betroffen sind hier die Kunden der bestreikten Unternehmen – nicht die Unternehmen selbst. Die Streitigkeiten zwischen Arbeitnehmern und Arbeitgebern werden direkt auf dem Rücken unschuldiger Dritter ausgetragen, die sich nicht dagegen wehren können.

Ich frage mich, wie Gaskell darüber denken würde. Wird hier die Gerechtigkeit nicht noch stärker verletzt als bei den Streiks im 19. Jahrhundert? Ist diese Methode nicht noch archaischer und weiter weg von der idealistischen Vision Gaskells, also vom kooperativen Dialog ohne einen Schaden auf beiden Seiten? Das soll nicht heißen, dass nicht jeder ein Recht darauf hätte, bessere Arbeitsbedingungen zu fordern. Die Frage ist nur, wie diese Forderung zum Ausdruck gebracht werden sollte.

Meine bescheidene Meinung ist, dass auch unsere moderne westliche Gesellschaft noch viel von Elizabeth Gaskells Literatur lernen kann. Man muss sie nur mit einem offenen, wachen Geist lesen.